Das Thema ist so aktuell wie selten: Selbstdarstellung und der Bedarf aus der Menge herauszuragen ist für viele Menschen zur Normalität geworden. In diesem Zusammenhang fällt auch immer häufiger das Wort Narzissmus. Der Begriff «Narzissmus» hat viele Grauzonen und reicht in seiner Bedeutung von Selbstverliebtheit bis zur Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung. Aus der griechischen Mythologie kennen wir die zugrunde liegende Geschichte: Der schöne Jüngling, dem das Verliebtsein in sein eigenes Spiegelbild zum Verhängnis wurde. Von dieser Überlieferung wurde das Wort «Narzissmus» für die Psychoanalyse abgeleitet und durch Sigmund Freud vor über 100 Jahren in Wissenschaft und Umgangssprache hineingetragen.

Reifer und unreifer Narzissmus

Den Begriff reifer und unreifer Narzissmus findet man zwar nicht in der wissenschaftlichen und klinischen Nomenklatur, er ist aber zur Veranschaulichung des Themas in diesem Artikel gut geeignet. So verwendet die Psychologin Katharina Ohana in ihrem neuen Buch (Ohana, 2022) diesen Begriff, um ein wertvolles Konzept von Narzissmus zu verdeutlichen: Kinder sind zum Überleben darauf angewiesen, narzisstisch zu sein. Mit ihrem kindlichen Narzissmus fordern sie Zuwendung und Aufmerksamkeit ein, um sich dadurch ein stabiles Selbst und soziale Lernerfahrungen zu ermöglichen. In der anschliessenden Reifung zum erwachsenen Mensch sollten die Kinder dann Fähigkeiten für das gemeinsame Leben und ihren Beitrag an der Gemeinschaft entwickeln. Bei diesem Reifeprozess geht es um eine Selbststruktur, mit der wir gleichzeitig unsere narzisstischen Bedürfnisse und die anderer Menschen erkennen, um Bedürfnisse gegenseitig zu erfüllen.

Drei Säulen unterstützen die Entwicklung zu einer positiven Selbststruktur: Beziehungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und unser Selbstbild. Das Ergebnis kann als reifer Narzissmus bezeichnet werden und hat nichts mit einem überzogenen oder krankhaften Selbstwertgefühl oder Verhalten zu tun. Wird hingegen der kindliche Narzissmus beibehalten, führt das zu verschiedenen Schutzmechanismen oder Kompensationen im Verhalten. Allerdings müssen wir klar unterscheiden zwischen einem Begriff, bei dem Narzissmus als notwendige Entwicklungsstufe und normales allgegenwärtiges Phänomen verstanden wird, und von dem diagnostisch verwendeten Narzissmus im Sinne einer Persönlichkeitsstörung. Trotzdem lohnt sich ein kurzer Exkurs in den klinischen Bereich, um Ansätze in unseren Selbststrukturen von Narzissmus zu verstehen. Dabei werden gemäss Konvention mindestens zwei Subtypen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung unterschieden.

Grandioser und vulnerabler Narzissmus

Grandioser Narzissmus wird im klinischen Handbuch durch den Fokus der betroffenen Personen von ständiger zur Schau gestellten Grossartigkeit und dem Bedürfnis nach Bewunderung bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Bedürfnisse seiner Mitmenschen definiert. Das führt zu Verhaltensmustern wie Autoritätsanspruch und Führungsdenken, Hang zur Selbstdarstellung sowie manipulatives oder sogar ausbeuterisches Verhalten. Häufig nicht erkannt als Narzissmus, aber ebenso egoistisch motiviert wie der grandiose, ist der verletzliche oder auch vulnerable Narzissmus. Diese verletzliche Erscheinungsform ist allerdings sehr viel schwerer zu erkennen.

Die betroffenen Personen zeichnen sich durch eine hohe Anspruchshaltung an sich selbst aus, sind aber gleichzeitig ängstlich vor der Kritik anderer. Sie neigen ebenso wie grandiose Narzissten zu Grössenfantasien, trauen sich jedoch aus Angst vor negativer Kritik nicht, diese nach aussen zu tragen. Sie zeichnen sich durch ein niedriges Selbstwertgefühl und emotionaler Instabilität aus. Das fatale an dieser Form: Im Verhalten zeigen sich diese Menschen als interessiert und überaus hilfsbereit. Es geht diesen Menschen jedoch nicht um die Bedürfnisse des Gegenüber, sondern darum, über Lob und Anerkennung das niedrige Selbstwertgefühl zu erhöhen. Das führt dazu, dass viele Personen mit verletzlichem Narzissmus sich in vielen Situationen als Opfer oder Märtyrer sehen und diese Rolle pflegen. Die Entstehung beider narzisstischen Subtypen sehen viele Psychologen in der Kindheit und Erziehung, verhaltensgenetische Analysen deuten jedoch auch auf einen hohen erblichen Anteil hin.

Das Bedürfnis der Bestätigung durch andere

Auch wenn die meisten von uns zum Glück keine klinische Ausprägung von Narzissmus haben, können wir diese Persönlichkeitszüge abgeschwächt in uns erkennen – zumindest wenn wir es möchten. Wir schreien geradezu nach ständiger Bestätigung von aussen. Beispielsweise die Eltern, die mit ihren gutgeratenen Kindern prahlen und das Gefühl brauchen, als Eltern unverzichtbar zu sein. Oder Personen, die sich mit der Darstellung ihrer beruflichen Erfolge brüsten. Nicht zu vergessen das ständige Posten von Fotos und Details aus unserem Leben. Das Problem dabei ist nur, dass wir uns damit konstant abhängig machen von Werten, die wir nicht beeinflussen können und die nicht von Dauer sind. Denn geht ein Kind einen anderen Weg als von den Eltern gewünscht, verläuft die berufliche Karriere nicht wie erwartet oder entsprechen wir der Schönheitsnorm nicht, ringen viele Menschen mit einem Gefühl der Minderwertigkeit oder einer Leere, nicht mehr gebraucht zu werden. Damit ist nicht gemeint, es sei nicht gut, sich mit ganzem Herzen etwas zu widmen, das man liebt und die Erfüllung im Beruf oder dem Elterndasein zu finden. Es geht eher darum, ob man etwas tut, um es nach aussen zu tragen und Bestätigung zu bekommen.

Für eine nachhaltige Veränderung des eigenen Lebens und des Befindens ist eine Voraussetzung, die eigene stabile Wertekultur zu finden, um sich seinen Freiheitsraum zu schaffen. Die ersten Schritte dieses Prozesses beginnen mit der bewussten Einsicht in unsere narzisstische Struktur und in die vorherrschenden Werte unserer Kultur. Unserer Werteprägungen und Selbststrukturen sind nicht über das Bewusstsein zu erreichen und deshalb auch nicht darüber zu verändern. Langfristig stabiles Gleichgewicht von Psyche und Körper kann nicht mit Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin oder Effizienz erreicht werden. Auch ist die Frage, ob es überhaupt an Leistungsbereitschaft mangelt, wenn man die hohe Anzahl Nutzer der diversen Optimierungsangebote betrachtet. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass eher die Vorstellung vom Leben das Problem darstellt. Wir akzeptieren nicht gerne, dass es auch ohne ein Herausragen aus der Menge gehen kann und das Leben voller Korrekturen unserer Vorstellung besteht.

Durch Befreiung von alten Werten zur angenehmen Leichtigkeit

Schwieriger als das Aussteigen aus Leistungsdenken und Konsumverhalten ist die Gestaltung der neuen Freiheit danach. Der Anspruch in uns ist ja: Ich muss wissen, was ich mit einem Schritt bezwecken möchte und damit halten wir uns selbst fest. Und es tut zunächst einmal weh, sich nicht von aussen bejubelt zu fühlen oder sich weniger gebraucht zu fühlen, da wir bereits daran gewöhnt sind. Was ist also nötig, damit wir ohne Überforderung und Angst vor Entwertung unseren zufriedenstellenden Platz in der Gesellschaft finden und unseren Hang zur unreifen Selbsterhebung oder zur Bestätigung durch andere mindern? Das Ziel ist ein Selbstbild, das sich aus unserer Gesundheit, unserer Balance und unserem Befinden zusammensetzt – nicht aus unseren Trophäen in der Leistungs– und Schönheitsgesellschaft.

Zum einen brauchen wir dazu Mut. Denn egal welchen überlebten Werten oder Lebensphasen wir den Rücken zukehren – zu Beginn empfinden wir möglicherweise eine Leere und gleiten deshalb gedanklich in alte Wertesysteme zurück. Zusätzlich erwarten wir durch die Abkehr aus dem Wertesystem unserer Gesellschaft zu schnell ein Wunder bei uns selbst. Leider reicht es nicht, einmal Haus oder Wohnung zu entrümpeln, wie oft zu lesen ist. Geduld und anfangs weniger zu erwarten, kann sich deshalb bewähren. Zusätzlich hilft ebenfalls, sich immer wieder die Fragen zu stellen: Was will ich überhaupt mit meinem Handeln erreichen? Deckt sich mein Tun mit meinen jetzigen Zielen und Werten? Was macht mir Freude? Was hat eine Bedeutung für mich? Und was kann ich zum Leben in der Gemeinschaft mit meiner Persönlichkeit beitragen, weil mir es Freude macht?

In einem Coaching werden Klienten bei diesem Prozess begleitet, indem sie durch Wahrnehmungs – und Werteübungen einen neuen Zugang zu sich selbst entdecken und gleichzeitig ihr Befinden durch Ressourcenstärkung steigern.

Quellenangaben:
– Ohana, K. 2022. Narzissten wie wir. Beltz Verlag

– Spektrum der Wissenschaft Kompakt: Narzissmus (2021). Spektrum der Wissenschaft. Verlagsgesellschaft 36.21

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Die Autorin

Name: Dr. Kirsten Koch

Beruf: Betrieblicher Mentor, Sport Mental Coach

Website: kirstenkochtraining.com

Motto: «Jeden Tag ein neues Motto zu haben»

Dr. Kirsten Koch

Mit ihrer Erfahrung und Wissen als Mental Coach, Biologin und Wettkampfsportlerin zeigt Kirsten Koch unseren Kunden, wie sie ihre Erfolge herbeiführen können. Kirsten Koch verbindet ihre Erfahrungen als Leistungssportlerin in Tennis und Triathlon mit ihrem naturwissenschaftlichen Hintergrund aus der Neurobiologie. Die Parallelen zwischen dem menschlichen Verhalten im Sport und dem alltäglichen Umfeld faszinieren sie. Deshalb unterstützt sie Sportler und Sportbegeisterte dabei, ein dynamisches Mindset zu entwickeln. Bei unseren Kunden geht es ihr vor allem um die Entwicklung der Fähigkeit, Ergebnisse gewinnbringend zu deuten und daraus den Transfer für wirksame Ziele zu machen.